Bodentiefe Fenster - Warum bodentiefe Fenster? Vor- Nachteile?

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Früher sprach man von den »eigenen vier Wänden«, heute müsste man sagen: »meine eigenen vier / sechs / acht Fenster« – je nachdem, von wie vielen bodentiefen und fast deckenhohen Fenstern die vier Wände durchzogen und unterbrochen werden. Bodentiefe Fenster sind vom Statussymbol zur Selbstverständlichkeit geworden, sie sind der Gegenentwurf zur Fensterbrett- und Blumentopfwelt, die Neubaubewohner hinter sich lassen möchten. Man kann bodentiefe Fenster kippen, sogar öffnen, sofern sie eine Absturzsicherung haben, aber: Kann man sie lieben?

Tatsächlich öffnet sich einem als Grundrisskäufer das Herz, wenn man auf den grafischen Simulationen des Immobilienmaklers die lichtdurchfluteten Räume und fast schwerelosen Wände sieht. Glas bis zum Boden, das kannte man sonst nur aus Hochhausszenen in großen Filmen und aus verschwenderischen Museumsbauten. Schon die Aussicht auf bodentiefe Fenster gibt einem das Gefühl, ein offenerer, leichterer, hellerer Mensch sein zu können.

In der öffentlichen Wahrnehmung vermitteln diese Fenster etwas Feierliches, Pathetisches, Visionäres. Wenn das Handelsblatt den führenden Talkshow-Konservativen Hans-Olaf Henkel porträtiert, erfährt man schon im ersten Absatz, dass der rüstige AfD-Funktionär aus seinem Penthouse in Berlin-Mitte durch bodentiefe Fenster auf »sein Ziel« blickt, das Regierungsviertel. Die umgekehrte Perspektive nimmt Gerhard Schröder in seinem Buch Entscheidungen: Mein Leben in der Politik ein: Der Ex-Kanzler schreibt über den Moment nach dem Rücktritt von Oskar Lafontaine im Jahr 1999. »Als Joschka wieder draußen war und auch Heye sich verabschiedet hatte, trat ich wie immer, wenn ich eine unübersichtliche Lage zu bedenken hatte, an das bodentiefe Fenster, durch das eine späte Sonne ihre letzten Strahlen schickte. Vorfrühling und ein frühes leichtes Grün im Park des Kanzleramtes.«

Nun wird sich jedoch den meisten Betrachtern, die in unübersichtlicher Lage an bodentiefe Fenster treten, eher moribunder Rollrasen oder ein Chaos aus Bobby-Cars, Kinderfahrrädern, Kickboards, Skateboards, Einrädern und Gummistiefeln präsentieren: Frühling in einer Neubausiedlung in München-Oberföhring, Hamburg-Ottensen oder im Berlin-Prenzlauer Berg. Denn gerade, wo für Familien gebaut wird, ist bodentief nun Planungsstandard, und auch Deutschlands meistverkauftes Wohnhaus »Flair 113« hat bodentiefe Fenster unterm Satteldach.

Auslöser war wohl der Siegeszug der Fußbodenheizung: Seit in Neubauten von unten geheizt wird, braucht man die Heizkörper an ihrem traditionellen Platz unterm Fenster nicht mehr, und das Fenster kann sich bis zum Boden strecken. Dadurch haben die Bewohner mehr Licht, und die Fassaden sehen weniger wuchtig und abweisend aus.

Die Planung ist das eine, aber die Bewohner-Realität das andere. Oder in den Worten von Anne Zuber, Chefredakteurin der Zeitschrift Häuser: »Die Realität, das ist der Augenblick, in dem man im Vorbeigehen in den Kühlschrank schaut, sich zwei Scheiben Salami in den Mund schiebt und dabei von Nachbarn aus drei verschiedenen Himmelsrichtungen beobachtet wird.« Zubers Aufforderung an künftige Architekten und Planer: »Salamizonen nicht vergessen.«

Erst mal freuen sich jedoch die Plissee-Anbieter, denn diese Rollo-artigen Faltstores, die man innerhalb des Fensterrahmens nach oben und unten verschieben kann, sind ideal, um aus bodentiefen Fenstern wieder solche zu machen, durch die man bis zur Bewohnerhüfte nicht schauen kann. Allerdings wirken diese Fenster dann wie die streng berockten Gouvernanten unter den Mauerlöchern. Andere behelfen sich mit matter Klebefolie, die aber immer die Frage nahelegt: Leute, warum bodentiefe Fenster, wenn ihr sie zuklebt?

Ein Spaziergang durchs Neubauviertel zeigt, dass die Bewohner einen Teil der bodentiefen Fenster im Laufe der Zeit einfach zustellen. Es sieht merkwürdig aus, denn die Rückseiten von Möbeln sind ja kein Fassadenschmuck. Aber was soll man machen, wenn das Kinderzimmer eine Wand mit Tür, eine Wand mit Schrank und zwei Wände mit bodentiefen Fenstern hat? Wer mit bodentiefen Fenstern wohnt, merkt schnell, dass sie Dinge von einem wollen, die man nicht leisten kann. Die Schriftstellerin Anke Stelling hat gerade einen erhellenden Roman über die Sinnkrise einer Mutter im Prenzlauer Berg geschrieben. Ihr Buch heißt tatsächlich Bodentiefe Fenster. Darin sinniert die Erzählerin, der Neubau sehe »von außen genauso aus, wie man’s heutzutage haben will. Aber die bodentiefen Fenster erschweren, ehrlich gesagt, das Einrichten, zumindest, wenn man nicht schon bei der Grundrisserstellung wusste, wer wo schlafen soll und mit wie vielen Menschen und Möbeln man einzieht. Die Fenster verlangen ein schlüssiges Gesamtkonzept.«

Jeder Umzug, erst recht, wenn man selbst baut, scheint wie ein Neustart, wie die Möglichkeit, endlich dieses »schlüssige Gesamtkonzept« zu haben, die Hoffnung, das eigene Leben endlich kontrollieren zu können. Aber ist man drin, holen einen die Fenster zurück auf den Boden, zu dem sie reichen. Ja, die Architekten preisen den Austausch zwischen privatem und öffentlichem Raum in der Wohnanlage, der Designmöbel-Katalog suggeriert, dass minimalistisches Wohnen im Alltag möglich sei, aber am Ende zeigen einem die bodentiefen Fenster: Alles bleibt immer Improvisation, schlüssig ist gar nichts.

Meine Tochter wird acht, sie war gerade geboren, als wir in den Neubau zogen. Sie kennt nur bodentiefe Fenster. In ihrem Zimmer hat sie drei davon. Vor ihrem Geburtstag gefragt, was sie sich wünsche, sagte sie: »Ein Fensterbrett.« Wieso das denn? »Wo man so gemütlich darauf sitzen kann. Oder sich abstützen. Mit einem Kissen oder so. Oder was draufstellen.« Und was? »Einen Blumentopf.«

Auto: Till Raether, Quelle: SZ-Süddeutsche
 
M

matte

Ich bin sehr froh, dass wir bodentiefe Elemente nur da haben, wo man auch raus gehen können soll.
Im Wohnzimmer - sozusagen im 1. Stock - haben wir nach langem Hin und Her darauf verzichtet, obwohl uns die Außenansicht weitaus besser gefallen hätte und auch keine Möbel vor den Fenstern stehen.
Nun sind wir froh, auf der Couch liegen zu können, ohne von außen gesehen zu werden.
Es ist trotzdem absolut hell und freundlich. Auch die Kinderzimmer kommen wunderbar ohne aus.
2 bodentiefe Fenster im Treppenhaus wurden auch durch normale Fenster ersetzt, einfach um eine gewisse Privatsphäre zu schaffen. Es war - zumindest für uns - die absolut richtige Entscheidung.

Wenn ich die Grundrissvorstellungen hier so sehe, sind gefühlt 90% mit dem Geschwür ausgestattet. Schon im Entwurf tauchen die ersten Möbel vor den ach so tollen bodentiefen Fenstern auf.
Da frag ich mich manchmal echt.
Ich find´s ja auch schön. aber bisschen die Möblierung bedenken kann doch wirklich nicht so schwer sein...

Letztens stand ich in nem Neubau (!), da wurde sogar die Küchenhalbinsel an das bodentiefe Festelement gebaut. dazwischen waren noch 5-10cm Luft, das wird nun für Kleinkram wie Schaufel+Besen und Zeitschriften verwendet.
Damit man den Schandfleck von außen nicht so sieht, wurde das Glas mit Folie beklebt, wie im Artikel beschrieben.
Geht´s noch?!?
 
Mycraft

Mycraft

Moderator
Ich verstehe die Aufregung nicht...dann stehen da eben Möbel vor und nun?

Es gibt noch so eine alte Sache, haben fast alle schon vergessen. Nennt sich Gardinen. Die macht man dann vor so Glas (welches in der Wand ist) unabhängig davon wie groß das Glas ist und schon wird dieses Glas von außen undurchsichtig.

Von innen kann man jedoch wunderbar rausschauen. Abends gehen die Rollläden runter.

Vor den 3 meiner 4 Bodentiefen Fenster im EG steht auch ein Sofa und zwar ganz bewusst. Bis jetzt gab es keine Klagen und Beschwerden. Auch während der Planungsphase war es klar, dass das Sofa dahinkommt und es kam uns nie in den Sinn, dass dies falsch sein könnte oder jemand sich daran stören würde.
 
Zuletzt bearbeitet:
Tina mit K

Tina mit K

Ich musste auch sehr schmunzeln. Wir werden im Wohnzimmer 6 bodentiefe Fenster haben von denen 4 geöffnet werden können um in den Garten zu gehen. Wir planen dort unseren Billardtisch hinzustellen und da ist es mir dann egal ob die Nachbarn das sehen können.
 
seat88

seat88

Hier hört sich wahrscheinlich nur jemand gern reden und versucht anderen die Welt zu erklären
 
Zuletzt aktualisiert 29.03.2024
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